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Impuls zum 16. Juni 2024

Zum 11. Sonntag im Jahreskreis

Von Klaus Hagedorn (Oldenburg), Geistlicher Beirat pax christi Deutsche Sektion e.V.

Senfkorn-Gestalten

Vorneweg
Ich beobachte: Es gibt Menschen, die mit Kraft und Elan und aus verschiedenen humanitärem, politischen und religiösen Beweggründen daran arbeiten, eine gerechtere und friedlichere Welt zu schaffen. Für sie gilt: Wenn wir uns intensiv genug bemühen, dann wird es gelingen. Eine andere und bessere Welt ist möglich. Wenn sie an Grenzen stoßen oder entdecken müssen, dass Probleme nicht gelöst werden und dafür neue auftauchen, sind sie enttäuscht. Sie erholen sich zumeist nach einiger Zeit davon und bauen ihre Motivation wieder auf. 

Mit Blick auf Erosionsprozesse, die unser Leben derzeit durcheinanderwirbeln, verlieren andere oft die Mut-Perspektive, zweifeln, sehen kaum Auswege in der Gefahr, ziehen sich zurück oder werden gleichgültig. Sie fangen an zu denken, dass der „Mensch des Friedens“ (vgl. Psalm 37, 37b bzw. das Motto des Erfurter Katholikentags) eben doch keine Zukunft hat. Manche fragen sich auch: „Wer garantiert, dass die Zukunft nicht den ‘starken‘ Männern und Frauen gehört, die nicht dem Frieden dienen, sondern die den ‘Feind‘ vernichten wollen? Oder die Frieden mit einer Friedhofsruhe verwechseln?“ (vgl. Publik Forum 31.5.2024, S.10). Die Rede vom Reich Gottes erscheint dann vielfach als eine Utopie einer friedvollen und gerechten Welt, die außerhalb unserer Möglichkeiten und Bemühungen liegt. Ich nehme eine andere Perspektive im jesuanischen Gleichnis vom Senfkorn wahr. 

Das Evangelium vom Tag: Vom Wachstum des Reiches Gottes – Markus 4,26-34
In jener Zeit sprach Jesus zu der Menge: Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mann Samen auf seinen Acker sät; dann schläft er und steht wieder auf, es wird Nacht und wird Tag, der Samen keimt und wächst und der Mann weiß nicht, wie. Die Erde bringt von selbst ihre Frucht, zuerst den Halm, dann die Ähre, dann das volle Korn in der Ähre. Sobald aber die Frucht reif ist, legt er die Sichel an; denn die Zeit der Ernte ist da. 

Er sagte: Womit sollen wir das Reich Gottes vergleichen, mit welchem Gleichnis sollen wir es beschreiben? Es gleicht einem Senfkorn. Dieses ist das kleinste von allen Samenkörnern, die man in die Erde sät. Ist es aber gesät, dann geht es auf und wird größer als alle anderen Gewächse und treibt große Zweige, sodass in seinem Schatten die Vögel des Himmels nisten können. Durch viele solche Gleichnisse verkündete er ihnen das Wort, so wie sie es aufnehmen konnten. Er redete nur in Gleichnissen zu ihnen; seinen Jüngern aber erklärte er alles, wenn er mit ihnen allein war.

Das „Reich Gottes“ ist alltägliches Unterfangen
Da wird gesagt: Das Reich Gottes gleicht einem Senfkorn, das am Ende groß herauskommt. Da gibt es einen Menschen, der seine Arbeit tut, der das tut, was notwendig ist. Er sät das winzige Senfkorn und wartet darauf, dass es auskeimt, wächst, zum Baum wird – ein bestechend einfaches Bild. Die Quintessenz des og. Gleichnisses ist, dass das „Reich Gottes“ langsam wächst. Es ist keine Utopie, keine Gegenwelt oder Erfahrung im sog. Jenseits oder Nirwana. Es ist alltägliche Arbeit, alltägliches Handeln. Es braucht keine außergewöhnlichen Umstände und keine außergewöhnlichen Menschen. Was es braucht, sind Menschen, die ihre Arbeit tun und aufrecht gehen, die nicht aufgeben und Geduld haben – in vielem, trotz vielem und vielem zum Trotz – in Klarsicht und mit Entschiedenheit und in der Überzeugung: Das, was wir einbringen können, ist unvollkommen, aber –glaubend gesprochen- „eine Gelegenheit für Gottes Gnade, ins Spiel zu kommen und den Rest zu tun“ (Oscar Romero). 

Ich möchte solche Menschen als Senfkorn-Gestalten bezeichnen und drei solcher Menschen erinnern. 

Dorothy Stang 
Dorothy Stang ist eine US-amerikanische brasilianische Ordensschwester. In Lateinamerika wird sie bezeichnet als „Märtyrerin der Landlosen und Landarbeitenden Amazoniens“. Sie wird 1931 in Dayton (Ohio/USA) geboren. Mit 17 tritt sie der Ordensgemeinschaft „Unserer Lieben Frau von Namur” bei. 1966 geht sie nach Brasilien. Anfang der 1980er Jahre lässt sie sich an die berüchtigte Urwaldtrasse “Transamazonica” versetzen. Schnell solidarisiert sie sich mit den verarmten Landarbeiter:innen und den indigenen Völkern im Regenwald, unterstützt deren Widerstand gegen Ausbeutung und Vertreibung und leistet juristischen Beistand. Das Evangelium Jesu begreift sie als Einladung zu einer solidarischen Lebensweise sowohl im persönlichen, zwischenmenschlichen Bereich als auch im politisch-gesellschaftlichen und weltweiten Zusammenleben.

Fast 40 Jahre ihres Lebens kämpft die Ordensfrau gegen die illegale Abholzung des Regenwaldes und schafft sich weltweite Anerkennung und auch mächtige Feinde. Öffentlich klagt sie korrupte Politiker, Mafiabosse, Landdiebe und Auftragsmörder an. Diese reagieren mit Morddrohungen, die sie am 12. Februar 2005 auch in die Tat umsetzen. Auf einem Dschungelpfad wird Sr. Dorothy mit neun Revolverschüssen regelrecht hingerichtet – im Auftrag eines Sägewerkbesitzers, der erst 2019, also 14 Jahre danach, zu 30 Jahren Haft verurteilt wird. Dorothy Stang wird von jenen ermordet, die Amazonien nur für sich wollen, die das Land ausbeuten - auch mit Waffengewalt. Sie baut zeitlebens mit an einem anderen, einem gerechteren und solidarischen Amazonien, wo alle Menschen das Recht auf Leben haben sollen, das Recht auf Aussaat und Ernte. 

Folgendes hat sie ihren Leuten im Regenwald gesagt: 

„‘Selig sind diejenigen, die keinen Status haben; sie werden das Land erben‘. Das heißt doch: Es wird Euch in der Bergpredigt Land versprochen, das Euch ernähren wird. Es wird Boden versprochen und all der Reichtum darin, der ausreicht, Eure Familien zu ernähren und in die Zukunft zu investieren. Es ist ein wirklich ungeheuerliches Versprechen, eines, nach dem sich alle sehnen. Es wird diese Reform des Landes geben, die mit dieser Seligpreisung übereinstimmt: Diejenigen ohne Status werden das Land erben. Diese Seligpreisung ist ein Versprechen, wie der Glaube selbst, dass diese Welt in unserer Zeit, in Echtzeit und an diesem Ort, dem unvergleichlichen Regenwald, der Amazonas-Wasserscheide Brasiliens, mehr gerecht und mehr friedvoll wird. Bleiben wir alle auf dem Weg, dafür zu arbeiten und zu kämpfen.“ 

„Ich habe gelernt, dass der Glaube mich trägt, und ich habe auch drei Dinge gelernt, die
schwierig sind: als Frau im Kampf für eine Landreform ernst genommen zu werden; dem Glauben treu zu bleiben und die Zuversicht zu behalten, dass diese kleinen Gruppen armer indigener Bauern sich mit ihrer eigenen Agenda durchsetzen werden; und selber für mich den Mut zu haben: Gib deine Lebenskraft im Kampf für Veränderung.“ 

Dorothy Day 
Dorothy Day ist eine US-amerikanische christliche Sozialistin und Journalistin. Sie wird 1897 in Brooklyn/New York geboren und stirbt 1980 in New York. Als Studentin wird sie Mitglied der Sozialistischen Partei Amerikas. Als Journalistin schreibt sie für sog. „linke“ Blätter. In Kalifornien tritt sie in die Kommunistische Partei der USA ein und leistet Pionierarbeit für die Partei in diesem Bundesstaat. Bis 1927 bleibt sie radikale Anhängerin des Kommunismus und wird später Vertreterin eines christlichen Anarchismus. Im März 1927 lässt sie ihre Tochter katholisch taufen, am Ende des Jahres wird sie selbst Mitglied der katholischen Kirche. Dorothy Day gründet 1933 zusammen mit Peter Maurin die Catholic-Worker-Bewegung. Das ist eine Sozialbewegung, zuerst in den USA, dann weltweit, die auf verschiedene Art und Weise benachteiligte Menschen unterstützt. Hospitality Houses, also Gasthäuser, gibt es in Europa seit den 1990ern u.a. in Dortmund und Hamburg, in Amsterdam, London und Gent. Leitideen sind: Orientierung am Evangelium, Arbeit für Frieden und Gerechtigkeit, Gastfreundschaft für Flüchtlinge, Leben in Gemeinschaft, freiwillige Armut und das Eintreten für Aktive Gewaltfreiheit. 

Als überzeugte Frauenrechtlerin und Pazifistin wird Dorothy Day mehrere Male inhaftiert, weil sie politische Entwicklungen nicht mit ihrem Gewissen und ihrem Glauben vereinbaren kann. Zuletzt 1973 – im Alter von 76 Jahren – wird sie inhaftiert und landet im Gefängnis, weil sie an einer verbotenen Streikpostenkette teilgenommen hat, um die Gewerkschaft der United Farm Workers in Kalifornien zu unterstützen. Dorothy Day ist auch Gründerin der Zeitung „The Catholic Worker“ in New York, die bis heute für den symbolischen Preis von 1 US-Cent verkauft wird. 

Aufschlussreich sind folgende Worte von ihr:

„Man hat als Freund Jesu immer der Frohen Botschaft zu folgen, das Evangelium in guten und schlechten Zeiten zu leben und zu verkünden; zentral ist die Botschaft, dass alle Menschen einander Brüder und Schwestern, also Geschwister sind. In allen Gemeinschaften des christlichen Glaubens ist diese Lehre enthalten. Man muss sie nur noch anwenden.“

„Die Welt steht in Opposition zu Christus, der sagt: ‘Liebe deine Feinde, tue Gutes denen, die dich hassen.‘ Wenn wir das praktizieren, sagen uns die Menschen, dass wir verrückt seien. Das ist in Ordnung, dann sind wir Verrückte für Christus.“ 

Jean Goss 
Jean Goss wird 1912 in Lyon/Frankreich geboren.  Bereits mit 13 Jahren muss er als ungelernter Arbeiter zum Lebensunterhalt der Familie beitragen, mit 15 Jahren tritt er in die Gewerkschaft ein und arbeitet hier als Gewerkschaftsaktivist. 1939 erhält er den Einberufungsbescheid für die französische Armee. In der Osternacht 1940, nachdem er fünf Tage auf französischer Seite ununterbrochen gekämpft und getötet hat, macht er eine sein Leben verändernde Erfahrung. Er erfährt in einem mystischen Erlebnis „Gott als unbedingte Liebe“. Seitdem sieht er seinen Auftrag darin, diese Liebe zu leben: Er hörte für sich den Auftrag Jesu: „Lehre die Menschen, sich zu lieben, so wie ich sie liebe.“

Nach 1945 schließt er sich der Arbeiterpriester-Bewegung in Frankreich an; er beteiligt sich am Widerstand gegen den Algerienkrieg. Während des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) erarbeitet er Eingaben an das Konzil – für die Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ bzgl. der Anerkennung des Weges Aktiver Gewaltfreiheit, bzgl. der kirchlichen Anerkennung der Kriegsdienstverweigerung und der Abschaffung von Massenvernichtungswaffen. Zusammen mit seiner Frau, Hildegard Goss-Mayr, gestaltet er im Rahmen des Internationalen Versöhnungsbundes eine weltweit orientierte Friedensarbeit und eine intensive Lobbyarbeit für Aktive Gewaltfreiheit. Gestorben ist Jean Goss am Ostermontag 1991. 

Seine Perspektiven hat er so beschrieben: 

„Die Liebe ist die Grundlage der Gewaltfreiheit. Worin besteht diese Liebe? Sie ist die absolute Ehrfurcht vor der menschlichen Person, eine Liebe, die bis zur Hingabe des eigenen Lebens geht, selbst für den, der dir das Leben nehmen will. Darin liegt das Geheimnis der Gewaltfreiheit Gottes.“

„In Wirklichkeit sind Wahrheit und Gerechtigkeit Werte, die … keine Verteidigung benötigen. Diese Werte brauchen vielmehr Zeugen, d.h. Menschen, die an sie glauben und diese Werte leben …. Gandhi, Martin Luther King und unzählige Märtyrer:innen, Glaubende und manchmal Atheisten haben diese Wahrheit und diesen Weg bezeugt.“

„Oft schien alles umsonst, kein Erfolg wurde sichtbar: Die Aufrüstung konnte nicht gestoppt werden. Unterdrückung und Ausbeutung dauerten an, Kriege konnten nicht verhindert werden. Immer wieder erfasste uns tiefe Traurigkeit, Bedrückung, Hoffnungslosigkeit vor dieser Macht des Bösen. Und dennoch gaben wir nicht auf. Wir konnten es gar nicht. Wer einmal erkannt hat, dass der Weg des gewaltfreien Widerstandes und der sich hinschenkenden Liebe der Weg zum Heil, der Weg zum inneren und äußeren Frieden der Menschheit ist, der kann nicht anders –ohne sich selbst zu verraten-, als unentwegt dafür zu kämpfen.“

Senfkorn-Gestalten – Menschen mit gegründeter Zuversicht
Dorothy Stang, Dorothy Day und Jean Goss sind für mich Senfkorn-Gestalten, Menschen mit gegründeter Zuversicht. Durch ihre Arbeit und ihre Lebenskraft ist auch das gewachsen, was Jesus von Nazaret das „Reich Gottes“ nennt. Es gleicht einem Senfkorn, das große Frucht bringt. Nur alltägliches Handeln kann das bewirken. Sie wissen, dass sie nicht alles selbst machen können und müssen. Sie können es auch nicht ständig, aber sie tun es immer wieder. Sie sind sich bewusst, dass das Optimale nicht das Perfekte ist. Das Optimale ist das, was in der gegebenen Zeit unter den gegebenen Umständen mit den Menschen um sie herum und mit ihren eigenen Möglichkeiten erreicht werden kann. Ignatius von Loyola hat folgende Anregung gegeben: „Handle so, als ob alles von dir abhinge, und vertraue so, als ob alles von Gott abhinge.“ Mit anderen Worten: Es kommt auf dich an, aber es hängt nicht von dir ab.

Und so frage ich mich heute: Was ist meine Perspektive? Was trägt mich durch, wenn das Warten lange dauert? Was treibt mich an und lässt mich nicht los, wenn ich keinen Erfolg sehe? Und: Für wen kann und will ich hoffen und offen sein?

„Wir bringen das Saatgut in die Erde…“ – Oscar Romero zugeschrieben
„Es hilft, dann und wann zurückzutreten und die Dinge aus der Entfernung zu betrachten. Das Reich Gottes ist nicht nur jenseits unserer Bemühungen. Es ist auch jenseits unseres Sehvermögens. Wir vollbringen in unserer Lebenszeit lediglich einen winzigen Bruchteil jenes großartigen Unternehmens, das Gottes Werk ist. Nichts, was wir tun, ist vollkommen. Dies ist eine andere Weise zu sagen, dass das Reich Gottes je über uns hinausgeht. Kein Vortrag sagt alles, was gesagt werden könnte. Kein Gebet drückt vollständig unseren Glauben aus. Kein Pastoralbesuch bringt die Ganzheit. Kein Programm führt die Sendung der Kirche zu Ende. Keine Zielsetzung beinhaltet alles und jedes. Dies ist unsere Situation. Wir bringen das Saatgut in die Erde, das eines Tages aufbrechen und wachsen wird. Wir begießen die Keime, die schon gepflanzt sind in der Gewissheit, dass sie eine weitere Verheißung in sich bergen. Wir bauen Fundamente, die auf weiteren Ausbau angelegt sind. Wir können nicht alles tun. Es ist ein befreiendes Gefühl, wenn uns dies zu Bewusstsein kommt. Es macht uns fähig, etwas zu tun und es sehr gut zu tun. Es mag unvollkommen sein, aber es ist ein Beginn, ein Schritt auf dem Weg, eine Gelegenheit für Gottes Gnade, ins Spiel zu kommen und den Rest zu tun. Wir mögen nie das Endergebnis zu sehen bekommen, doch das ist der Unterschied zwischen Baumeister und Arbeiter. Wir sind Arbeiter, keine Baumeister. Wir sind Diener, keine Erlöser. Wir sind Propheten einer Zukunft, die nicht uns allein gehört.“